29.01.2021 10:30

«Eine Beziehung, die stärker ist als Krankheit und Tod»

«Alle aus der ganzen Talschaft, welche zum Begräbnis gekommen waren, gingen zum üblichen Imbiss ins Wirtshaus. Da geschah es nun, dass wie üblich Frauen und Kinder an einem eigenen Tische sassen, die sämtliche erwachsene Mannschaft aber Platz hatte an dem berühmten Scheibentische, der jetzt noch im Bären zu Sumiswald zu sehen ist. Er ward aufbewahret zum Andenken, dass einst nur noch zwei Dutzend Männer waren, wo jetzt an zwei Tausende wohnen»
Jeremias Gotthelf


Liebe Freundinnen und Freunde unseres Lassalle-Hauses

Sie erkennen die Novelle dieses wunderbaren Schweizer Erzählers und Schriftstellers Jeremias Gotthelf, die schwarze Spinne? Darin geht um eine Epidemie eigener Art, die das kleine Dorf im Berner Oberland fast entvölkert. Literarisch jünger ist der bekannte Roman, die Pest von Albert Camus, der zwei Jahrhunderte später eine Epidemie in Oran, in Algerien beschreibt.

An den freien Abenden, die uns erneut in diesen Wochen des neuen Jahres beschert werden, habe ich wieder einmal zu diesen Büchern gegriffen, zum ersten Mal nach meiner Schulzeit. Und es nicht bereut. Einfach des Lesevergnügens wegen.

Dann war mein Interesse, ob diese Erzählungen auch Hinweise geben auf spirituelle Quellen, die in diesen Krisen uns helfen könnten? Da bin ich zunächst nicht fündig geworden. Für den reformierten Pfarrer Gotthelf war dies zu selbstverständlich und für den agnostischen Camus vordergründig nicht von Bedeutung.

Bei näherem Hinsehen jedoch erweist sich bei Gotthelf der christlichen Glaubensvollzug als Beziehungsgeschehen. Eine Beziehung, die stärker ist als Krankheit und Tod. Und die den zwei Schlüsselfiguren, die Kraft gibt zu handeln. Bei Camus scheint mir, ist es die innere Freiheit, die sich der Arzt Dr. Rieux bewahrt, durch alle Bedrängnis und persönliche Tragödien hindurch und die ihn ebenfalls ins Handeln kommen lässt.

Denn spannend finde ich, dass sich die Geschichten der Schwarzen Spinne sowie die Pest vor allem um das Handeln drehen. Es geht in beiden Geschichten nicht einfach nur darum, eine Epidemie gott- oder schicksalsergeben zu erleiden. Immer werden auch Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der konkreten Verantwortung einzelner verfolgt.

Die Novelle von Jeremias Gotthelf greift volkstümliche Sagen aus dem Emmental auf. Ein überzeitliches Ringen zwischen Gut und Böse. Die Personen gewinnen weniger individuelle Züge. Ein gelingendes Gemeinwohl und ein friedliches Miteinander kontrastiert Gotthelf mit Hochmut, Zügellosigkeit und Verschwendungssucht. Und es braucht das beherzte, buchstäbliche Zugreifen einzelner. In der Geschichte von Gotthelf sind es eine fromme Mutter und der Bauer Christen, die Verantwortung übernehmen, die schwarze Spinne einfangen und so erneut Frieden und Hoffnung im Dorf ermöglichen.

Auch bei Albert Camus ist die Pest ein Bild für die Gesellschaft bedrohenden Kräfte, wie der Nationalsozialismus, den er erlitten und bekämpft hat. Menschen reagieren in solch einer gesellschaftlichen Bedrohung unterschiedlich. Manche der Charaktere in dem Roman bleiben selbst angesichts der Katastrophe in ihrer kleinen Welt gefangen, andere profitieren sogar davon. Für den der Religion fernstehenden Albert Camus bleibt unsere Welt letztlich immer unerklärlich, wenn nicht sogar absurd. Die einzige sinnmachende menschliche Handlung ist die des Dr. Rieux, der sich durch Zivilcourage und Nächstenliebe als Arzt für den anderen Menschen engagiert.

Was für mich beide Geschichten aufwerfen sind die Fragen nach spiritueller Beziehung und innerer Freiheit, die Frage nach meinem konkreten Handeln gegenüber den Schwachen in dieser Zeit und wie solidarisch oder unsolidarisch sich unsere Gesellschaft in Krisenzeiten verhält.

Tobias Karcher SJ
Direktor Lassalle-Haus

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